
“Maggot Brain” fürs 21. Jahrhundert.
Was wäre, wenn Bilderbuch die “Feinste Seide”-EP nie veröffentlicht, die Hektik ihrer Anfangstage trotzdem abgelegt hätten, aber nach “Die Pest Im Piemont” nicht gen Pop, sondern gen Psychedelic abgebogen wären? Wahrscheinlich wären sie nicht allzu weit entfernt von “Vernissage My Heart” herausgekommen. Doch “Vernissage My Heart” erschien eben nicht 2015, sondern vier Jahre beziehungsweise drei Alben später. Auch diese dazwischenliegenden Entwicklungen präsentieren die Österreicher bei ihrer Vernissage.
Gerade vor diesem Hintergrund wird “Europa 22” zum Kernstück des Albums: ein beinahe zehn Minuten langer Psychedelic-Jam, gefühlt das Offline-Sequel zu “Checkpoint (Nie Game Over)” und qualitativ dessen Champions League-Version. Mit “zirka 120 km/h” cruist Maurice über den Kontinent, bestaunt dessen Schönheit und träumt von einem “Leben ohne Grenzen”. Die Auflösung der Grenzen machen Bilderbuch musikalisch vor: Irgendwann sickert das Lyric-Mantra so tief ins Bewusstsein, dass Maurice den Text aufgibt und eins mit den Instrumenten wird. Als wollten sie ihre Utopie wenigstens im Albumkontext schon jetzt realisiert wissen, gestalten sie die zweite Hälfte der Nummer als instrumentale Traumsequenz. “Eine Freedom zu verschenken … I better open my eyes!”
Zu den weiteren Highlights zählen der Titeltrack mit Mizzy in einschmeichelnder Lead-Höchstform und dem dominanten Spiel Peter Horazdovskys, das einen Hauch der bassgetriebenen Grooves von früher zurückbringt, sowie der flockige Hit der Platte, “Ich Hab Gefühle”. “Manchmal, da fühl’ ich: Diese Welt, sie braucht mich”, jauchzt Maurice dort. Ja, manchmal fühl’ ich das auch, und sei es nur, um zu zeigen, dass Gitarrenmusik noch immer irrsinniges Potenzial birgt und auch im heutigen popkulturellen Diskurs noch eine Rolle spielt.