Vernissage My Heart»

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«Maggot Brain» fürs 21. Jahrhundert.

Review von Manuel Berger

Was wäre, wenn Bilderbuch die «Feinste Seide»-EP nie veröffentlicht, die Hektik ihrer Anfangstage trotzdem abgelegt hätten, aber nach «Die Pest Im Piemont» nicht gen Pop, sondern gen Psychedelic abgebogen wären?  Wahrscheinlich wären sie nicht allzu weit entfernt von «Vernissage My Heart» herausgekommen. Doch «Vernissage My Heart» erschien eben nicht 2015, sondern vier Jahre beziehungsweise drei Alben später. Auch diese dazwischenliegenden Entwicklungen präsentieren die Österreicher bei ihrer Vernissage.

Bilderbuchs neue Ausstellung ist eine Freakshow, in der die Exponate nicht erschrecken, sondern bezaubern sollen. Für «Frisbeee» etwa frankensteinern sie Beach Boys, Cloud Rap-Genöle und Lo-Fi-Indie zu einem Tagtraum zusammen. Bei «Memory Card 2» sugerrieren Handtrommel und «More Than Words«-Gitarre eine Absenz des Digitalen, doch in der Hosentasche plingt das iPhone und Autotune vernebelt den Kopf. Ich wage zu behaupten: Keine andere Band bringt momentan einen derartigen Stilmix zustande. Jedenfalls nicht so ungezwungen und natürlich wie Bilderbuch.Plötzlich ergibt die Trennung der 17 im vergangenen Jahr aufgenommenen Songs in «Mea Culpa» und «Vernissage My Heart» absolut Sinn. Das entspannte, größtenteils akustische «Memory Card 2» bildet den Gegenentwurf zum blitzenden Egotrip «Memory Card» vom Zwillingsalbum, Lethargie wandelt sich in pure Relaxation, der Hipster zum Hippie, pseudogestresste «superrichkids» weichen «Kids Im Park». Im gleichnamigen Song frisst sich zäher Stoner-Fuzz als Virus in die Computer-Musikkultur.Bilderbuch eisen sich los vom inhaltsleeren Großstadtdschungel, es zieht sie «woanders hin». Sie fliehen gen «In-A-Gadda-Da-Vida» und übersetzen das Gemeinschaftsmotto der 60s-Psychedeliker ins Heute: «Liebe is the place to be.» Auch dank der vielen Funk-Anleihen und weil Gitarrist Michael Krammer, der sich inzwischen ‹Snacky Mike› nennt, auf «Vernissage My Heart» zum mit Abstand wichtigsten Bandmitglied wird und einen schier unerschöpflichen Vorrat quirliger Licks und Melodien abruft, wandeln Bilderbuch in den Fußstapfen Funkadelics. «Vernissage My Heart» ist ihr «Maggot Brain» fürs 21. Jahrhundert, mit Falco als Schutzpatron.

Gerade vor diesem Hintergrund wird «Europa 22» zum Kernstück des Albums: ein beinahe zehn Minuten langer Psychedelic-Jam, gefühlt das Offline-Sequel zu «Checkpoint (Nie Game Over)» und qualitativ dessen Champions League-Version. Mit «zirka 120 km/h» cruist Maurice über den Kontinent, bestaunt dessen Schönheit und träumt von einem «Leben ohne Grenzen». Die Auflösung der Grenzen machen Bilderbuch musikalisch vor: Irgendwann sickert das Lyric-Mantra so tief ins Bewusstsein, dass Maurice den Text aufgibt und eins mit den Instrumenten wird. Als wollten sie ihre Utopie wenigstens im Albumkontext schon jetzt realisiert wissen, gestalten sie die zweite Hälfte der Nummer als instrumentale Traumsequenz. «Eine Freedom zu verschenken … I better open my eyes!»

Zu den weiteren Highlights zählen der Titeltrack mit Mizzy in einschmeichelnder Lead-Höchstform und dem dominanten Spiel Peter Horazdovskys, das einen Hauch der bassgetriebenen Grooves von früher zurückbringt, sowie der flockige Hit der Platte, «Ich Hab Gefühle». «Manchmal, da fühl› ich: Diese Welt, sie braucht mich», jauchzt Maurice dort. Ja, manchmal fühl› ich das auch, und sei es nur, um zu zeigen, dass Gitarrenmusik noch immer irrsinniges Potenzial birgt und auch im heutigen popkulturellen Diskurs noch eine Rolle spielt.

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