Vom gemobbten Kind über den polarisierenden Teenie-Welt-Star zu einem einsamen, verblüffend unsicheren Mann: ein todtrauriges Buch.
(dani) «Ich habe nie etwas gemacht, um anderen zu gefallen«, schreibt Bill Kaulitz im Epilog von «Career Suicide» (Ullstein Verlag, 384 Seiten, Hardcover, 22 Euro) – nachdem er mindestens die zweihundert vorangegangenen Seiten damit gefüllt hat, wie stark er als Teenie-Star aufs Funktionieren getrimmt wurde, über Jahre hinweg seine körperliche und seelische Verfassung vor aller Welt verborgen hat und dies noch immer tut. Es wirkt schon ein bisschen absurd, passt aber zu diesem zerrissenen Buch über einen zerrissenen Menschen.
Kulturschock
«Meine ersten dreißig Jahre«, lautet der Untertitel, und, ja: Der Frontmann von Tokio Hotel hat in dieser kurzen Zeitspanne tatsächlich genug erlebt, um bereits jetzt eine Biografie zu füllen. Obwohl die ersten zwölf, dreizehn Jahre davon recht öde gewesen zu sein scheinen. Um den Kulturschock zu verstehen, mit dem sich die Kaulitz-Brüder nach ihrem Durchbruch mit «Durch Den Monsun» und dem sich anschließenden Welterfolg konfrontiert sahen, ist dennoch hilfreich, zu wissen, aus welchen Verhältnissen sie stammen.
Als Zwillingssöhne einer selbst erst knapp dem Teenie-Alter entwachsenen Mutter erlebten sie, gerade nach der Trennung der Eltern, eine alles andere als auf Rosen gebettete Kindheit. Bill, im Gegensatz zu seinem robuster gestrickten Bruder Tom, schon von Kindertagen an der feminine, exaltierte Typ, geriet in dem Kaff in der ostdeutschen Provinz denkbar rasch ins Visier der Schulhofmobber. Er sucht nach Waffen und findet: ein großes Mundwerk und hoch fliegende Träume. Nicht immer sympathisch, aber nachvollziehbar.
Muschis überall
Dass jedes Mittel recht und billig erscheint, um der dörflichen Tristesse zu entfliehen: geschenkt. Die Schilderungen unbeholfener (vor-)pubertärer Sexspielchen hätte ich trotzdem nicht in diesem Ausmaß gebraucht. Auch, wenn er das alles rückblickend (wie vieles andere) eher abwertend beschreibt, wirkt es, als wolle Bill hier unbedingt frühreif-versaut erscheinen. Tatsächlich kommt es, genau wie der gerne bemühte Muschi-Vergleich («Das Musikgeschäft öffnete sich wie eine warme, feuchte Möse«, «Meine Speicheldrüsen squirteten wie eine geile Muschi beim Anblick von Omas Kochkunst» – WTF?) eher verklemmt rüber.
Dazu passt auch die Verdruckstheit, in der er sich das ganze Buch hindurch um ein Bekenntnis bezüglich seiner sexuellen Orientierung herumdrückt. Klar ist das seine Privatangelegenheit, kann es auch gerne bleiben. Dann sollte er dieses Thema aber halt auch ausklammern, statt es wieder und wieder anzuschneiden und so zu tun, als hätten alle anderen ein Problem mit seiner (möglichen) Homo- oder Bisexualität, wo er selbst offenbar ein viel größeres damit hat.
Parade-Selbstbetrug
Bill Kaulitz beschreibt seine Entwicklung vom gemobbten Kind über das Zwischenstadium polarisierender Teenie-Welt-Star zu einem einsamen, verblüffend unsicheren Mann. Um nicht allzu genau über die Schäden nachdenken zu müssen, die er auf seinem Weg genommen hat, flüchtet er sich in die Musik und den damit verbundenen Businesszirkus, außerdem in Alkohol und Drogen. «Ich könnte jederzeit damit aufhören«, schreibt er tatsächlich den Parade-Selbstbetrug aller Süchtigen nieder, «denn an Abhängigkeit glaube ich ebenso wenig wie an Therapie oder Hypnose«. Schade – und im Grunde todtraurig, wie dieses ganze Buch.
Das schauderhaft wichtigtuerische Vorwort von Benjamin von Stuckrad-Barre einmal ausgenommen (der offenbar ungemein dringend loswerden musste, dass er in Hollywood zu angesagten Partys eingeladen wird), liest sich «Career Suicide» trotzdem gut. Die erste Hälfte mag noch etwas langatmig ausfransen. Spätestens, wenn Kaulitz aber über seine Erfahrungen im Haifischbecken der Unterhaltungsindustrie zu plaudern beginnt, nimmt die Sache rasant Fahrt auf.
Gehasste Kinder
Kein gutes Haar lässt er an denen, die die Ahnungslosigkeit von vier sachsen-anhaltinischen Jungs ausnutzten, um sie über Jahre hinweg an (vermutlich sittenwidrige) Verträge zu binden. Bill beschreibt zudem sehr lebhaft und bewegend, wie gruselig es sich anfühlt, von den einen frenetisch gefeiert, belagert und auf Schritt und Tritt verfolgt und von den anderen grund- und gnadenlos gehasst zu werden. Etwa bei der von Stefan Raab ausgerichteten «Stock Car Crash Challenge»: Bandkollege Georg, seinerzeit als einziger alt genug für den Führerschein, hatte an dem Motorsport-Klamauk-Spektakel teilgenommen.
«Fett inszeniert, mit Feuer und so, sollten wir unsere vierte Single promoten, Auftritt mitten auf der Rennstrecke. (…) Das war der erste Moment, in dem wir merkten, wie viel Hass wir tatsächlich in der Republik auslösten. Ungezügelter Hass, wann immer wir die Halle betraten, um Georg beim Rennen zu supporten. Ich meine, wir waren kleine Kinder, Babys, die da reingelaufen sind, und da stehen Familienväter – nicht die prolligen Dorfjungs oder junge, neidische Asis, erwachsene Männer standen da neben ihren Töchtern, die uns ganz toll fanden, und streckten uns ihre Fäuste entgegen. Erziehungsberechtigte, die uns drohten und mich ausbuhten, ein 15-jähriges Kind …»
Die Leere hinter der Fassade
Bill schildert seine Versagensängste und die drückende Last der Verantwortung, die er auf seinen einst dürren Schultern zu stemmen versuchte, bis zum buchstäblichen Zusammenbruch. «Career Suicide» erzählt vom Ausstieg aus dem Hamsterrad und der Rückkehr hinein, weil man eben doch nichts anderes hat und kann, von der Leere und Einsamkeit hinter den glänzenden Fassaden und von Löchern, die sich mit Geld nicht stopfen lassen. Wie gesagt: ein abgrundtief trauriges Buch.
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Bill Kaulitz – «Career Suicide – Meine ersten dreißig Jahre»*
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